10.02.2023, 16:22
(09.02.2023, 20:58)Charles schrieb:(09.02.2023, 16:37)Lucille schrieb: Zweitens: „Dann lässt man den Stift fallen…“ - So einfach ist es nicht. Es gibt Fristen, deren Verpassen eine Dienstpflichtverletzung darstellt. Es gibt Vorsitzende oder Behördenleiter, die Druck machen. Man hat eigene Ambitionen, die man nicht gefährden will, usw. Sicherlich kein Spezifikum der Justiz.
Vor allem kann ein Gerichtspräsident ja inzwischen theoretisch gegen Richter vorgehen, wenn die Erledigungszahlen dauerhaft unterdurchschnittlich sind. Ganz abgesehen von den schlechten Beurteilungen. Dass dieser "Durchschnitt" aber bereits viel zu hoch ist, wird bedauernswerter Weise nicht berücksichtigt. Ebenso behält man die Illusion bei, dass dadurch in keinster Weise die Unabhängigkeit des Richters gefährdet sein soll. Man soll halt einfach schneller arbeiten. (https://www.lto.de/recht/justiz/j/bgh-ri...hme-ruege/).
Man muss sich einfach bewusst sein, dass die Justiz in Deutschland seit Jahrzehnten mit Minimaletats abgespeist wird und vollständig im Schatten der Exekutive steht.
Es gibt einen Grund, warum die Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO deutlich zunehmen, ebenso Vergleiche im Zivilrecht.
Um die Arbeitsbelastung annähernd erträglich zu halten und der rein auf Quanität fixierten Verwaltung zu entsprechen muss man halt im Akkord die Akten wegschaffen, sonst wird das nichts. Ob einen das beruflich erfüllt, der Bedeutung der Justiz als eigene Gewalt im Staat gerecht wird und angemessen in Relation zur R1-Besoldung steht, muss jeder für sich entscheiden.
Lasst bitte den Freiburger Ex-Kollegen aus dem Spiel. Da ging es um eine sehr spezielle Persönlichkeit mit sehr eigenen Vorstellungen - das hat überhaupt nichts mit der Überlastung und den Problemen eines durchschnittlichen R1-Richters zu tun.
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen, bei denen es hingenommen wird, dass sie keine überdurchschnittlichen Ambitionen haben. Das einzige, was denen droht, ist eine ausbleibende Beförderung, die bei größerem Einsatz auch nicht garantiert wäre.
10.02.2023, 16:51
Ergänzend zu den (wie immer) guten Ausführungen von Praktiker: eine Beurteilung besteht nicht nur aus Erledigungszahlen. Im Gegenteil, die Erledigungszahlen machen da nur einen ganz ganz kleinen Teil aus. Man kriegt also nicht automatisch eine schlechte Beurteilung, nur weil man wenig(er) Erledigungen produziert.
Komisch übrigens, dass es hier wieder so viele Horrorgeschichten gibt. In anderen Threads gibts hingegen total viele positive Berichte von Richtern.
Viele Grüße von einer Richterin, die seit 14 Uhr im Feierabend ist und erst Montag um 10 Uhr wieder im Gericht auftauchen wird
Komisch übrigens, dass es hier wieder so viele Horrorgeschichten gibt. In anderen Threads gibts hingegen total viele positive Berichte von Richtern.
Viele Grüße von einer Richterin, die seit 14 Uhr im Feierabend ist und erst Montag um 10 Uhr wieder im Gericht auftauchen wird
10.02.2023, 17:24
(10.02.2023, 16:22)Praktiker schrieb: Lasst bitte den Freiburger Ex-Kollegen aus dem Spiel. Da ging es um eine sehr spezielle Persönlichkeit mit sehr eigenen Vorstellungen - das hat überhaupt nichts mit der Überlastung und den Problemen eines durchschnittlichen R1-Richters zu tun.
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen, bei denen es hingenommen wird, dass sie keine überdurchschnittlichen Ambitionen haben. Das einzige, was denen droht, ist eine ausbleibende Beförderung, die bei größerem Einsatz auch nicht garantiert wäre.
Es geht darum, welche Sanktionsmöglichkeiten die Verwaltung bei Unterschreitung gewisser Erledigungszahlen (theoretisch) hat. Und letztlich darum, inwiefern die materielle Rechtsanwendung von Richtern durch die von der Exekutive aufoktroyierten Sparzwänge beeinflusst werden kann. Deshalb erwähnte ich auch beispielhaft die steigenden Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO.
Nicht immer muss das so explizit geschehen. Auch unbewusst kann man durch das indirekt vorgegebene (hohe) Arbeitspensum dazu angehalten werden, möglichst schnell die Akte vom Tisch zu bekommen.
Auf diesen Erledigungsdruck in der heutigen Justiz wollte ich schlicht hinweisen, denn dies ist in meinen Augen ein Faktor, den man bei der Berufswahl berücksichtigen sollte. Nicht jeder wird damit glücklich und kann das mit seinem richterlichen Selbstverständnis vereinbaren.
Dass der Freiburger Kollege eine "sehr spezielle Persönlichkeit" hat, mag durchaus sein, ändert aber in der Sache nichts.
10.02.2023, 21:28
(10.02.2023, 17:24)Charles schrieb:(10.02.2023, 16:22)Praktiker schrieb: Lasst bitte den Freiburger Ex-Kollegen aus dem Spiel. Da ging es um eine sehr spezielle Persönlichkeit mit sehr eigenen Vorstellungen - das hat überhaupt nichts mit der Überlastung und den Problemen eines durchschnittlichen R1-Richters zu tun.
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen, bei denen es hingenommen wird, dass sie keine überdurchschnittlichen Ambitionen haben. Das einzige, was denen droht, ist eine ausbleibende Beförderung, die bei größerem Einsatz auch nicht garantiert wäre.
Es geht darum, welche Sanktionsmöglichkeiten die Verwaltung bei Unterschreitung gewisser Erledigungszahlen (theoretisch) hat. Und letztlich darum, inwiefern die materielle Rechtsanwendung von Richtern durch die von der Exekutive aufoktroyierten Sparzwänge beeinflusst werden kann. Deshalb erwähnte ich auch beispielhaft die steigenden Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO.
Nicht immer muss das so explizit geschehen. Auch unbewusst kann man durch das indirekt vorgegebene (hohe) Arbeitspensum dazu angehalten werden, möglichst schnell die Akte vom Tisch zu bekommen.
Auf diesen Erledigungsdruck in der heutigen Justiz wollte ich schlicht hinweisen, denn dies ist in meinen Augen ein Faktor, den man bei der Berufswahl berücksichtigen sollte. Nicht jeder wird damit glücklich und kann das mit seinem richterlichen Selbstverständnis vereinbaren.
Dass der Freiburger Kollege eine "sehr spezielle Persönlichkeit" hat, mag durchaus sein, ändert aber in der Sache nichts.
Volle Zustimmung. Es ist schlecht und ergreifend nichts anderes als Fließbandarbeit. Wer seine Fälle ordentlich bearbeiten will, sollte lieber was anderes machen.
11.02.2023, 00:19
(10.02.2023, 21:28)Fritzle schrieb:(10.02.2023, 17:24)Charles schrieb:(10.02.2023, 16:22)Praktiker schrieb: Lasst bitte den Freiburger Ex-Kollegen aus dem Spiel. Da ging es um eine sehr spezielle Persönlichkeit mit sehr eigenen Vorstellungen - das hat überhaupt nichts mit der Überlastung und den Problemen eines durchschnittlichen R1-Richters zu tun.
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen, bei denen es hingenommen wird, dass sie keine überdurchschnittlichen Ambitionen haben. Das einzige, was denen droht, ist eine ausbleibende Beförderung, die bei größerem Einsatz auch nicht garantiert wäre.
Es geht darum, welche Sanktionsmöglichkeiten die Verwaltung bei Unterschreitung gewisser Erledigungszahlen (theoretisch) hat. Und letztlich darum, inwiefern die materielle Rechtsanwendung von Richtern durch die von der Exekutive aufoktroyierten Sparzwänge beeinflusst werden kann. Deshalb erwähnte ich auch beispielhaft die steigenden Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO.
Nicht immer muss das so explizit geschehen. Auch unbewusst kann man durch das indirekt vorgegebene (hohe) Arbeitspensum dazu angehalten werden, möglichst schnell die Akte vom Tisch zu bekommen.
Auf diesen Erledigungsdruck in der heutigen Justiz wollte ich schlicht hinweisen, denn dies ist in meinen Augen ein Faktor, den man bei der Berufswahl berücksichtigen sollte. Nicht jeder wird damit glücklich und kann das mit seinem richterlichen Selbstverständnis vereinbaren.
Dass der Freiburger Kollege eine "sehr spezielle Persönlichkeit" hat, mag durchaus sein, ändert aber in der Sache nichts.
Volle Zustimmung. Es ist schlecht und ergreifend nichts anderes als Fließbandarbeit. Wer seine Fälle ordentlich bearbeiten will, sollte lieber was anderes machen.
Das ist in dieser Pauschalität unrichtig und nicht in Ordnung gegenüber den Kollegen, die ihre Fälle in der bezahlten Zeit und trotzdem ordentlich bearbeiten.
Das ist auch das Ärgernis an dem Freiburger Fall: dass hier jemand für sich beansprucht hat, selbst bestimmen zu dürfen, wie viel er arbeitet, und zugleich suggeriert wird, alle anderen, die mehr arbeiten, würden das dafür in schlechterer Qualität tun.
Und ja: als Steuerzahler und als Kollege, der nicht bei einem Bruchteil des Gehalts ein Mehrfaches arbeiten wollte, fand ich es richtig, dass ein solches Verhalten ab irgendeiner Grenze sanktioniert wird - wenn auch nur in Form eines folgenlosen Vorhalts...
11.02.2023, 00:29
(11.02.2023, 00:19)Praktiker schrieb: Das ist in dieser Pauschalität unrichtig und nicht in Ordnung gegenüber den Kollegen, die ihre Fälle in der bezahlten Zeit und trotzdem ordentlich bearbeiten.
Das ist auch das Ärgernis an dem Freiburger Fall: dass hier jemand für sich beansprucht hat, selbst bestimmen zu dürfen, wie viel er arbeitet, und zugleich suggeriert wird, alle anderen, die mehr arbeiten, würden das dafür in schlechterer Qualität tun.
Und ja: als Steuerzahler und als Kollege, der nicht bei einem Bruchteil des Gehalts ein Mehrfaches arbeiten wollte, fand ich es richtig, dass ein solches Verhalten ab irgendeiner Grenze sanktioniert wird - wenn auch nur in Form eines folgenlosen Vorhalts...
Volle Zustimmung.
11.02.2023, 14:57
(11.02.2023, 00:19)Praktiker schrieb: Das ist in dieser Pauschalität unrichtig und nicht in Ordnung gegenüber den Kollegen, die ihre Fälle in der bezahlten Zeit und trotzdem ordentlich bearbeiten.
Das ist auch das Ärgernis an dem Freiburger Fall: dass hier jemand für sich beansprucht hat, selbst bestimmen zu dürfen, wie viel er arbeitet, und zugleich suggeriert wird, alle anderen, die mehr arbeiten, würden das dafür in schlechterer Qualität tun.
Und ja: als Steuerzahler und als Kollege, der nicht bei einem Bruchteil des Gehalts ein Mehrfaches arbeiten wollte, fand ich es richtig, dass ein solches Verhalten ab irgendeiner Grenze sanktioniert wird - wenn auch nur in Form eines folgenlosen Vorhalts...
Es gibt einen Unterschied zwischen erbrachter Leistung und Erledigungszahlen. Selbstverständlich darf ein Richter nicht "selbst bestimmen, wie viel er arbeitet". Das verlangt auch niemand. Es ist indes völlig unstreitig, dass in dem konkreten Fall die geschuldete Arbeitszeit erbracht wird (und sogar mehr Stunden gearbeitet wurde, als eigentlich geschuldet). Nun mag es sinnvoll sein, zumindest eine absolute "Untergrenze" für die Erledigungszahlen zu definieren, weil ~40 Wochenstunden zumindest in irgendeinem konkreten Ergebnis münden sollten.
Der entscheidende Punkt ist aber: Die indirekt vorgegebenen Erledigungszahlen sind in meinen Augen (du magst das anders sehen) zu hoch. Das trotz >40 Wochenstunden allein die Zahl von 68% der Erledigungen des Durchschnitts (der wie gesagt durch die Verwaltung schon stark noch oben geschoben wurde) zu einer Sanktionierung führt, ist bedenklich.
Solange einige Kollegen eine Kritik am Sparzwang und der Überlastung der Justiz und den hohen indirekten Erledigungsvorgaben durch die Exekutive als eine Unterstellung "man selbst würde nicht gründlich arbeiten" versteht, wird sich dieses System indes nicht ändern. Während andere Berufsgruppen wie Ärzte oder Lehrer geschlossen gemeinsam ihre Interessen vertreten, sind deutsche Juristen vornehmlich damit beschäftigt, sich gegenseitig fertig zu machen. Da muss man sich dann über die Arbeitsbedingungen und Bezahlung in der deutschen Justiz - die nachweislich im europäischen Vergleich ziemlich schlecht sind - auch nicht wundern.
Wie gesagt: Es lässt sich statistisch klar nachweisen, dass die Einstellungen nach § 153 oder Vergleiche im Zivilrecht deutlich zunehmen. Es wird übrigens auch immer weniger Beweis erhoben. Mit materiellem Recht hat das wenig zu tun: Aber wenn die Aktenstapel immer weiter wachsen, gibt es eben unbewusst deutliche Anreize, sein Verhalten anzupassen. Wer vorhat, zur Justiz zu gehen, sollte das berücksichtigen.
Wen es interessiert, zum Zivilprozess hier eine gute Untersuchung aus dem Jahr 2018: (https://www.bundestag.de/resource/blob/5...r-data.pdf).
11.02.2023, 16:39
Neben der geschuldeten Arbeitszeit und den Erledigungszahlen gibt es noch einen dritten Aspekt, und zwar die Qualität der Arbeit. Die ist aber nun wirklich richterliche Unabhängigkeit, und damit bleibt eine Variable in der Gleichung offen. Wenn man in der Nähe von Freiburg/Karlsruhe arbeitet, kann man sie aber vielleicht näherungsweise bestimmen ;)
Und doch, er hat sowohl gesagt, dass er selbst die Zahl der bearbeiteten Fälle bestimmen darf, als auch den Eindruck erweckt, dass man bei den Umständen nicht ordentlich arbeiten kann.
Wo die akzeptable Untergrenze liegt, ist natürlich schwer bestimmbar, da gebe ich Dir völlig Recht. Aber es muss sie geben.
Und natürlich: es wäre schön, wenn es auch mehr Erzieherinnen, Krankenhauspersonal, Lehrkräfte, Rente usw. gäbe. Das sind alles sehr wichtige Sachen. Leider konkurriert die Justiz aber mit allen diesen Bereichen, und daher wird sich da das Personal nicht relevant vermehren. Wer krank ist oder arm oder Kinder in der Schule hat, spart ungern daran zu Gunsten einer sorgfältigeren Begründung bei 153 StPO...
Das allerdings muss einem tatsächlich klar sein, wenn man den Beruf ergreift.
Und doch, er hat sowohl gesagt, dass er selbst die Zahl der bearbeiteten Fälle bestimmen darf, als auch den Eindruck erweckt, dass man bei den Umständen nicht ordentlich arbeiten kann.
Wo die akzeptable Untergrenze liegt, ist natürlich schwer bestimmbar, da gebe ich Dir völlig Recht. Aber es muss sie geben.
Und natürlich: es wäre schön, wenn es auch mehr Erzieherinnen, Krankenhauspersonal, Lehrkräfte, Rente usw. gäbe. Das sind alles sehr wichtige Sachen. Leider konkurriert die Justiz aber mit allen diesen Bereichen, und daher wird sich da das Personal nicht relevant vermehren. Wer krank ist oder arm oder Kinder in der Schule hat, spart ungern daran zu Gunsten einer sorgfältigeren Begründung bei 153 StPO...
Das allerdings muss einem tatsächlich klar sein, wenn man den Beruf ergreift.
11.02.2023, 17:19
Hier in der Region ist der "Freiburger" auch nicht für besonders hohe Qualität bekannt gewesen. Da gab es eine Diskrepanz zwischen Selbst-und Fremdwahrnehmnung

11.02.2023, 18:27
(11.02.2023, 16:39)Praktiker schrieb: Und natürlich: es wäre schön, wenn es auch mehr Erzieherinnen, Krankenhauspersonal, Lehrkräfte, Rente usw. gäbe. Das sind alles sehr wichtige Sachen. Leider konkurriert die Justiz aber mit allen diesen Bereichen, und daher wird sich da das Personal nicht relevant vermehren. Wer krank ist oder arm oder Kinder in der Schule hat, spart ungern daran zu Gunsten einer sorgfältigeren Begründung bei 153 StPO...
Exakt. Nur stellt sich die Frage, inwiefern es ein tragfähiges System darstellt, wenn die Exekutive der Judikative die benötigten Mittel vorenthalten kann. Das sich dieses exekutivnahe System gerade in Deutschland mit seiner Geschichte gehalten hat, verwundert mich immer wieder. Soweit ersichtlich haben eine solche institutionelle Unterordnung der Justiz sonst nur noch Österreich und Tschechien in der EU. Deutschland widersetzt sich damit seit Jahren den Aufforderungen des Europarats.
Deshalb ist es letztlich eine Glaubensfrage, ob man die Justiz so ohne weiteres neben Lehrkräfte, Rente, Kitas etc. aufzählen kann. Oder ob die Justiz nicht eine unabhängige eigenständige Staatsgewalt darstellt, die den Bürger gerade vor dem Staat (und insb. vor der Exekutive) schützen soll, weshalb es fragwürdig ist, wenn die Qualität dieses Schutzes von den Mitteln abhängt, die sich die Exekutive zu überweisen erbarmt.
Für den deutschen öffentlichen Rundfunk wird dies zB. nicht akzeptiert, auch die Rechnungshöfe sind institutionell unabhängiger als die deutsche Justiz.